Wednesday, October 31, 2012

Der Himmel dichtet

Manche Dichter sitzen am Schreibtisch
und suchen Reime für die Nacht,
finden sie einen, ist es vollbracht.
Wir fahren nachts im Boot über den See
und lassen den Himmel dichten. 

Quint Buchholz/Michael Krüger, Keiner weiß es besser als der Mond. Hanser, München 2001.

Sunday, October 28, 2012

Tobias Elsäßer - Für Niemand

Selbstmord bei Jugendlichen ist ein hartes Thema. Aber es ist wichtig, es nicht zu verdrängen.


Der Verlag (auf dessen Seite es auch Videotrailer zum Buch (!) gibt) fasst den Inhalt von Tobias Elsäßers Für Niemand wie folgt zusammen:
"Drei Jugendliche, drei Schicksale. Sie kennen sich nicht, aber sie alle haben ein gemeinsames Ziel: Selbstmord.
In einem Internetforum verabreden sich Sammy, Nidal und Marie, um gemeinsam zu sterben – ohne allerdings zu ahnen, dass sie beobachtet werden. Yoshua ist heimlicher Mitleser des Chats und versucht, das Ereignis zu verhindern. Tatsächlich gelingt es ihm, die Identität, die hinter den Nicknames steckt, herauszufinden. Doch als er zum vereinbarten Treffpunkt kommt, ist es für einige schon zu spät..."

Elsäßer erzählt episodisch aus den unterschiedlichen Perspektiven der Jugendlichen, unterbrochen von Aussagen anderer Beteiligter bzw. durch die Chatprotokolle. Als Jugendlicher hat man so sicher eine Chance, sich zumindest in einige der Personen hineinversetzen zu können. Für mich als Erwachsene ist es teilweise schwer, die Beweggründe der drei für ihre Selbstmordpläne nachzuvollziehen. Sie bleiben teils klischeehaft, teils unkonkret. Manchmal schimmert aber auch das Leiden an der Welt hindurch, an das ich mich durchaus erinnere. Eine Welt der Masken und Rollen, in der es unmöglich scheint, man selbst, ehrlich und glücklich zu sein oder zu werden.
Der Roman bleibt undramatisch, so scheint es, selbst das Ende. Vielleicht muss dies zu sein, um Jugendliche zwar zu berühren, sie aber nicht zu sehr in die Richtung eigener selbstmörderischer Gedanken zu drängen.
Eine Behandlung im Unterricht stelle ich mir sehr schwer vor, wenngleich ich das Thema für höchst brisant und wichtig halte. Aber da stellt sich die Frage, ob dies nur meiner eigenen Angst geschuldet oder eine rationale Gefahreneinschätzung ist.

Tobias Elsäßer, Für Niemand. Sauerländer, Mannheim 2011.

Andrea Fazioli - Am Grund des Sees

Andrea Fazioli lebt im Schweizer Kanton Tessin und lässt seine Romane auch dort spielen. 
Elia Contini ist Privatdetektiv und lebt zurückgezogen in den Bergen. Ganz in der Nähe gibt es einen Staudamm, der entstand, als er ein kleiner Junge war. Sein Elternhaus liegt auf dem Grund des Sees und seitdem ist auch sein Vater verschwunden. Nun soll der Staudamm erweitert werden und plötzlich werden der Bürgermeister und der planende Ingenieur ermordet. Contini beginnt Fragen zu stellen und wird damit selbst zum Verdächtigen...
Die Grundidee des Romans, das Setting und die Charaktere bieten durchaus Möglichkeiten für eine spannende Geschichte. Fazioli jedoch enthüllt Großteile seiner Geschichte völlig beiläufig, es ist bereits ab dem ersten Drittel klar, was geschehen ist und geschehen wird. Eine echte Wendung gibt es nicht, auch der Showdown ist trotz Schneesturm und Schusswaffen sehr vorhersehbar. 
Die eigentlich Frage, was mit dem Vater damals geschah, wird lapidar "heruntererzählt" von einer Augenzeugin in Briefform. Mit der Wiedergabe von Briefen, E-Mails und SMS versucht Fazioli mehrmals im Roman, seine Erzählform aufzulockern, auf mich wirkte dies aber eher wie eine Aneinanderreihung von Informationen, mit denen die Story vorangetrieben werden sollte. Insgesamt eher ein enttäuschender Roman trotz der guten Idee und des ungewöhnlichen Tessiner Schauplatzes.
 

Andrea Fazioli, Am Grund des Sees. btb Verlag, München 2009.

Saturday, October 27, 2012

Jacques Berndorf - Die Nürburg-Papiere


Jacques Berndorf ist einer der erfolgreichsten Krimiautoren Deutschlands und lebt in er in der Eifel, wo auch seine Krimis spielen. Bereits in Eifel-Rallye (1997) nahm er sich des Nürburgrings als Schauplatz an.
Die Nürburg-Papiere (2010) beschäftigen sich mit dem finanziellen Filz hinter dem Motorsport. Der Manager der Ring-GmBh wird ermordet, weitere Morde folgen. Die Story ist kompliziert, viele Ermittlungsrichtungen, nichts überzeugt wirklich.
Der liebeswerte, eifelliebende Baumeister hält sich mit den Eifel-Schwärmereien etwas zurück, dafür sind die übrigen vertrauten Charaktere etwas aus dem Gleichgewicht geraten: Rodenstock ist nach seiner Erkrankung psychisch unten und stößt seine Frau Emma und Baumeister ständig vor den Kopf, sehr unsympathisch. Folglich ist er als Ermittler auch kaum mit von der Partie. Emma ist entsprechend verzweifelt und geht shoppen mit Jennifer, die der Heirat mit einem Brasilianer knapp entkommen ist. Es taucht ein alter, inzwischen obdachloser Freund von Baumeister auf, der ihm in seinen Überlegungen als Reflexionsfläche dient. Ein bisschen nach Wunschdenken Berndorfs fühlt sich die neue, jüngere Freundin von Baumeister an, die aus dem Nichts auftaucht und schon immer nach Baumeister gesucht hat.
Dialoge und Charakter Baumeisters machen nach wie vor viel Freude, der Fall vermochte mich dennoch nicht so recht zu fesseln und auch die Aufklärung ist meines Empfindens eher schwach gelöst.

Jacques Berndorf, Die Nürburg-Papiere. Radioropa, Daun 2010.

Wednesday, October 24, 2012

Rotkäppchen

Postkarte von Maria aus Moskau, Russland
Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: »Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.«

»Ich will schon alles gut machen«, sagte Rotkäppchen zur Mutter und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wußte nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. »Guten Tag, Rotkäppchen«, sprach er. »Schönen Dank, Wolf.« »Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?« »Zur Großmutter.« »Was trägst du unter der Schürze?« »Kuchen und Wein: gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken.« »Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?« »Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nußhecken, das wirst du ja wissen«, sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: »Das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du mußt es listig anfangen, damit du beide erschnappst.« Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: »Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig hausen in dem Wald.«

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: »Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, daß ich doch zu rechter Zeit ankomme«, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief darnach, und geriet immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. »Wer ist draußen?« »Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf.« »Drück nur auf die Klinke«, rief die Großmutter, »ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen. « Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.

Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, daß es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, daß die Türe aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, daß es dachte: »Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter!« Es rief »Guten Morgen«, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück: da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. »Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!« »Daß ich dich besser hören kann.« »Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!« »Daß ich dich besser sehen kann.« »Ei, Großmutter, was hast du für große Hände« »Daß ich dich besser packen kann.« »Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!« »Daß ich dich besser fressen kann.« Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.

Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: »Wie die alte Frau schnarcht, du mußt doch sehen, ob ihr etwas fehlt.« Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, daß der Wolf darin lag. »Finde ich dich hier, du alter Sünder«, sagte er, »ich habe dich lange gesucht. « Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten: schoß nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: »Ach, wie war ich erschrocken, wie war's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!« Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er gleich niedersank und sich totfiel.

Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: »Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat.«

Es wird auch erzählt, daß einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter, daß es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: »Wenn's nicht auf offner Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.« »Komm«, sagte die Großmutter, »wir wollen die Türe verschließen, daß er nicht herein kann.« Bald darnach klopfte der Wolf an und rief: »Mach auf, Großmutter, ich bin das Rotkäppchen, ich bring dir Gebackenes.« Sie schwiegen aber still und machten die Türe nicht auf: da schlich der Graukopf etlichemal um das Haus, sprang endlich aufs Dach und wollte warten, bis Rotkäppchen abends nach Haus ginge, dann wollte er ihm nachschleichen und wollt's in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte, was er im Sinn hatte. Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, da sprach sie zu dem Kind: »Nimm den Eimer, Rotkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.« Rotkäppchen trug so lange, bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase, er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, daß er sich nicht mehr halten konnte und anfing zu rutschen: so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein, und ertrank. Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und tat ihm niemand etwas zuleid.

Brüder Grimm: Die schönsten Kinder- und Hausmärchen - Kapitel 140 (gefunden bei Projekt Gutenberg)

Friday, October 19, 2012

Frau Freitag - Voll streng, Frau Freitag

Nach Chill mal, Frau Freitag ist Voll streng, Frau Freitag das zweite Buch der Lehrerin mit dem erfolgreichen Blog. Ihre Geschichten drehen sich größtenteils um das letzte Schuljahr ihrer 10. Klasse (Integrierte Sekundarschule Berlin-Neukölln), sie sind kurz und kurzweilig, mal ernst und mal albern. Die Lehrerpersönlichkeit von Frau Freitag klingt in allen Geschichten mit, sie ist mir sympathisch und so manches Mal nickt man, erkennt sich und die Situationen des Schulalltags wieder.
„Was ist das für ein komischer Beruf, die Verantwortung für 28 Teenager und ihr Leben zu haben? Wie fühlen sich denn Menschen in anderen Berufen? Fühlen sich die Leute im Jobcenter auch so verantwortlich, wenn sie jemanden in einer Maßnahme schicken und der da nicht ankommt? Ärgern sich Ärzte darüber, wenn der Patient mit chronischem Lungenleiden nicht mit dem Rauchen aufhört? Kann der Finanzminister nachts nicht schlafen  weil Deutschland so viele Schulden macht?“
Ja, der Beruf ist anders. Und direkt danach:
„Hilft Supervision?“ (S.56f.)
Der Spagat zwischen den Beruf als Berufung wahrzunehmen und dennoch gesund zu bleiben. Ja.
Allgemein zum Buch gesprochen: Nette, sprachlich schlichte und etwas seichte Unterhaltung, gewisse Affinität zum Thema sollte gegeben sein.

Frau Freitag, Voll streng, Frau Freitag – Neues aus dem Schulalltag. Ullstein, Berlin 2012.

Janne Teller - Krieg

Das kleine Buch von Janne Teller hat das Format eines Reisepasses, weinrot, ledrige Pappoberfläche.
„Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen?
Wenn durch die Bomben der größte Teil des Landes, der größte Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du mit deiner Familie lebst, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre? Der Winter steht bevor, die Heizung funktioniert nicht, es regnet herein. Ihr könnt euch nur im Keller aufhalten. Deine Mutter hat Bronchitis, und bald wird sie wieder eine Lungenentzündung bekommen. [...]“
So beginnt das Gedankenexperiment der dänischen Autorin Janne Teller (*1964 in Kopenhagen), das sie ursprünglich 2001 als fiktiven Essay in einer Lehrerzeitschrift veröffentlichte und das in den jeweiligen Übersetzungen den individuellen Gegebenheiten des Landes angepasst wurde. Sie entwirft darin ein Szenario, dass den Leser zum Opfer einer Kriegssituation macht, aus der die Familie fliehen muss. Nicht nur das ohnmächtige Erleben der Vernichtung der soliden Lebensgrundlage ist Thema, sondern vor allem die entsetzliche Situation als Flüchtling zum Bittsteller im fremden, nicht wohlgesonnenen Land zu werden.

So schreibt Teller im Nachwort:
„Das heutige Thema ist Migration, die durch menschliche oder Naturkatastrophen in aller Welt ausgelöst wird, die Bedrohung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit von Familien und Einzelpersonen aus vielen verschiedenen Gründen, sowie soziale Ungleichheiten und mangelnde wirtschaftliche Chancen. Es geht um eine Begegnung der Kulturen, um das Vermögen und mehr noch die Bereitschaft von Einzelnen, Gruppen und ganzen Völkern, aufeinander zuzugehen. Es geht um unser Selbstverständnis, die Frage, wie jeder sich selbst und andere sieht, die fremden Ankömmlinge zum einen, die Gastgeber der Ankömmlinge zum anderen.“
Leider ist dies immer aktuell, in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Tellers Botschaft ist klar. Ich denke, ihr Weg, die Problematik Menschen durch den Perspektivwechsel näherzubringen  ist ein guter Ansatz. Auch die Illustrationen von Helle Vibeke Jensen sind eindrucksvoll. Für mich selbst blieb die Flüchtlingsperspektive dennoch abstrakt, funktionierte nicht richtig. Vielleicht bedeutet dies aber nur, dass ich zu verhaftet bin in meinem eigenen Wohlstandsleben, zu wenig empathisch. Die Botschaft nehme ich dennoch mit.


Die deutsche Website zum Buch ist umfangreich, lässt die Autorin zu Wort kommen (u.a. in einem kleinen Video) und bietet Raum für Eindrücke und Diskussionen.


Janne Teller, Krieg – Stell dir vor, er wäre hier. Hanser, München 2011.

Elizabeth George - Glaube der Lüge


Inspector Lynley und Barbara Havers sind inzwischen beim 17. gemeinsamen Band angekommen. Die Verhältnisse haben sich derweil etwas verschoben. Lynley, immer noch angeschlagen durch den Tod seiner Frau Helen, hat eine Affäre mit seiner Chefin Isabelle Ardery, die wiederum neben der Eifer- und Kontrollsucht auch mit ihrem Alkoholismus zu kämpfen hat.
Daher ist es etwas problematisch, als Lynley von seinem Vorgesetzten Hillier zu einer diskreten Ermittlung nach Cumbria in den Norden geschickt wird, von der Ardery nichts wissen soll. Der Neffe eines adligen Toilettenherstellers ist ertrunken – war es ein Unfall oder war es Mord? Lynley bittet seine Freunde Simon und Deborah Sinclair zu Hilfe, die mit ihm die Familie des Opfers unter die Lupe zu nehmen. Jeder hat etwas zu verbergen, immer mehr schmutzige Wäsche wird hervorgezerrt, die nur teilweise mit dem Tod des Neffen zu tun hat, so dass schlussendlich ganz andere Ergebnisse bei den Ermittlungen herauskommen als eigentlich gewollt.
Glaube der Lüge (Originaltitel Believing the Lie) beschäftigt sich weniger mit der kriminalistischen Aufklärung eines Mordfalls als vielmehr mit den Verstrickungen und Geheimnissen, die jeder scheinbar mit sich herumträgt. Keiner der Beteiligten sagt die Wahrheit, erst am Schluss zeigen einige ihre echten Gefühle und Interessen. Auch die liebgewonnenen Protagonisten müssen sich Selbstbetrug und verborgene Interessen gegenüber ihren Partnern eingestehen, so hat sich George für jeden Lügen ausgedacht, an die zu glauben oder die zu enttarnen jeder für sich entscheiden muss.
Als Kriminalroman ist Glaube der Lüge kaum zu bezeichnen, wenngleich das Buch durchaus spannend ist, gerade wenn sich die parallelen Erzählstränge sich ihren unterschiedlichen Enden nähern. Nicht alles geht gut aus, so dass sich schon wieder neue Fragen für den Folgeband entstehen. Unsere liebgewonnenen Protagonisten Lynley und Havers machen beide am Ende die Erfahrung, dass sie das Glauben an bequeme Lügen in die Irre geführt hat und brechen mit der Lüge, die Folgen sind noch nicht absehbar.

Elizabeth George, Glaube der Lüge. Goldmann, München 2012.

Saturday, October 13, 2012

Gipi - 5 Songs



Comics heißen jetzt auch Graphic Novels. Es entwickelte sich eine Kunstform von Künstlern, die keine Comicserien zeichnen, sondern aufwändig gestaltete Kurzromane mit einer eigenen Bildsprache schaffen.
Der Italiener Gipi (geboren 1963 in Pisa) ist Illustrator und Art-Director in einer Werbeagentur und außerdem Regisseur von Kurzfilmen. Er erhielt zahlreiche Preise und gilt als einer der großen Autoren im Comicbereich.

5 Songs erzählt mit starken Bildern (Tusche und Aquarell)  in meist düsteren Farben die Geschichte einer Band. Vier Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten kommen zusammen, um Musik zu machen, in der sie all ihre Sorgen und Gefühle ausdrücken können.

Die familiären und gesellschaftlichen Konflikte der Vier sind sensibel dargestellt, Musik kann Ausgleich sein, wenngleich sich die Realität nicht ausschließen lässt. 
Zeichnerisch empfinde ich 5 Songs zwar als beeindruckend, aber sehr düster, was auch für die Darstellung der Figuren gilt. Die Einblicke in die engen, bedrückenden Welten der Jugendlichen sind gelungen und durch die Bilder erlebbar.

Gipi, 5 Songs. avant-verlag, Berlin 2007.

Henning Mankell - Erinnerung an einen schmutzigen Engel



Mankells Faszination mit dem afrikanischen Kontinent fand schon immer auch Ausdruck in seinen Romanen. Erinnerung an einen schmutzigen Engel entstand auf der Basis eines historischen Fragments aus einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, heute Moçambique.
Es gab mysteriöse Bordellbesitzerin mit schwedischem Namen, die als eine der bedeutendsten Steuerzahlerinnen in den Büchern der Stadt Laurenço Marques (heute Maputo) auftaucht. Man weiß nichts über ihre Herkunft und auch nichts über ihren Verbleib.
Mankell spinnt um dieses historische Fragment die Lebensgeschichte von Hanna Renström, die - aus einem schwedischen Dorf stammend - als Köchin auf einem Dampfschiff anheuert und auf dem Weg nach Australien an der afrikanischen Küste desertiert und von Zufällen bedingt dort ein außergewöhnliches Leben führt. Wesentliches Thema des Romans ist der Rassismus der Weißen gegenüber der schwarzen Bevölkerung. Die naive Hanna steht dem herrischen Verhalten der Weißen erst irritiert und verständnislos gegenüber, im Zuge ihrer Anpassung an die Situation und ihrem steigenden gesellschaftlichen Status übernimmt sie die diskriminierenden Verhaltensweisen, um diese dann schlussendlich aufgrund ihrer Überlegungen und Erfahrungen für sich selbst zu überwinden.
Durch die Augen der Protagonistin sieht man vor allem zu Beginn nur Ausschnitte der kolonialistischen Welt und gewinnt erst nach und nach Einblicke in die Mechanismen der Unterdrücker, die man aus Hannas Sicht aber erst spät als eben solche wahrzunehmen in der Lage ist. Doch dann zieht sie für sich die moralisch richtigen Schlüsse, versucht zunächst zu helfen, allerdings ohne das System der Ausbeutung, in dem sie sich als Bordellbesitzerin befindet, gänzlich aufzugeben, denn dieses ist Quelle ihres Reichtums. Als ihre Versuche scheitern, verlässt sie ihre Machtposition in der weißen Gesellschaft und reist ab. 
Mankell erzählt Hannas Geschichte in seinem gewohnten Stil, geradlinig und schnörkellos, aber mit starken Bildern, die es vermögen, sich sowohl Hannas wandelnde Weltsicht als auch das koloniale Leben Afrikas vorzustellen.  Gleichzeitig zeichnet Mankell auch einmal mehr das Mystische, das Afrika für ihn bedeutet.

Henning Mankell, Erinnerung an einen schmutzigen Engel. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.

Monday, October 08, 2012

Cornelia Funke - Reckless



Cornelia Funke entwirft in Reckless – Steinernes Fleisch erneut eine Parallelwelt, wie sie es in ihrer Tinten-Trilogie bereits getan hat. Durch einen Spiegel gelangen die Protagonisten in eine Welt, die unserer zwar in manchen Dingen ähnelt, aber deutlich mystischer und magischer ausfällt. Gestalten und vor allem Zauberdinge aus den Märchen unserer Welt sind dort real, oftmals aber düsterer und gefährlicher als selbst das grausamste Märchen in unserer Realität. Neben Zwergen, Feen und Menschen gibt es auch noch eine weitere Bevölkerungsgruppe, die Goyl. Die Goyl haben eine steinerne Haut und streben nach jahrhundertelanger Verfolgung durch die Menschen nun an, nicht nur ihre eigene Unterwelt, sondern auch die oberirdische Welt zu beherrschen. Durch einen Feenzauber führen die Verletzungen der Goyl bei Menschen dazu, dass ihr Fleisch wie bei den Goyl zu Stein wird.
Als dies bei seinem Bruder Will geschieht, setzt Jacob  Reckless alles daran, seinen Bruder vor der schrecklichen Verwandlung zu retten und entkommt dabei mehrmals selbst nur knapp dem Tod.
Funkes fantastische Parallelwelt ist kein nettes Märchenland, auch wenn Rapunzelhaare, Hexenbesen und andere Wunderdinge einen dies glauben machen könnten, die Menschenfresser oder der todbringende Schneider stammen eher aus dem Gruselkabinett. So wird man immer wieder an die eigenen Märchen und Sagen erinnert, die seltsam verzerrt in dieser anderen Welt auftauchen, und dabei auch regelmäßig überrascht, weil vieles eben doch anders ist als erwartet. Das politische Geschehen, die Kriege, das Verhandeln, das in den Rücken fallen,  und die vielfach egoistischen Beweggründe der Figuren sind uns dagegen seltsam vertraut. Ein Spiegel, der uns vorgehalten wird?
Dennoch machen Funkes Figuren Freude, vor allem Jacob und seine Gefährtin, die gestaltwandelnde Füchsin, sind vielschichtig und interessant.  Dies gilt weniger für Will und seine Freundin Clara, die beide leider deutlich oberflächlicher gezeichnet sind, wobei eine Innensicht gerade Wills, dessen Äußeres und zugleich seine Identität sich wandeln, spannend gewesen wäre. Vielleicht ist dies aber auch der Unterschied eines Erwachsenenromans zum Jugendbuch, wo eine gewisse Vereinfachung sowohl die Textlänge im Rahmen hält, als auch das Verständnis erleichtert. 

 Cornelia Funke, Reckless – Steinernes Fleisch. Dressler 2010.