Friday, July 28, 2017

Alfred Andersch - Sansibar oder der letzte Grund

In Rerik, einer kleinen Stadt an der Ostsee, treffen im Herbst 1937 sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander:
Knudsen, ein Fischer und Besitzer eines eigenen Kutter, sein Fischerjunge, der namenlos bleibt, Gregor, ein Funktionär der kommunistischen Partei, die Jüdin Judith und der Pfarrer Helander. 
Eine nicht unwesentlich Rolle spielt auch eine Holzplastik, die der "Lesende Klosterschüler" genannt wird und die man sich als Plastik Der Buchleser (1936) von Ernst Barlach vorstellen muss.

Diese Menschen verbindet der Gedanke an Flucht: Aus unterschiedlichen, größtenteils sehr offensichtlichen Gründen wollen sie Deutschland verlassen. Denn der Roman spiel zur Zeit des Nationalsozialismus, die "Anderen", wie sie Andersch nennt, sind an der Macht und bedrohen alle genannten Charaktere. 
Der "Lesende Klosterschüler" gilt als entartete Kunst und darf nicht länger in Pfarrer Helanders Kirche stehen. Die Plastik steht symbolisch für Bildung, das Nachdenken, den Widerstand im Innern, und Helander begibt sich selbst in Gefahr, wenn er sie rettet, d.h. aus Rerik hinausschmuggelt. Am nächsten Tag soll sie abgeholt werden - damit entscheidet sich auch Helanders Schicksal an diesem Tag. Judiths Mutter hat gerade Selbstmord begangen, um die Tochter zur Flucht vor den Nazis zu zwingen. Hilflos und planlos versucht sie ihr Glück in der Hafenstadt Rerik. Gregor bemerkt sie am Hafen und erkennt sofort, dass sie - so wie er im Grunde auch - fliehen möchte. Doch sein Auftrag lautet, Knudsen, das letzte Mitglied der KPD in Rerik zu reaktivieren, was dieser aber schlichtweg ablehnt. Dieser wähnt sich hilflos und machtlos gegenüber den anderen und empfindet das Ansinnen der Partei, aktiver zu sein, als unsinnig. Der Junge ist als lebendige Version des "Lesenden Klosterschülers" zu sehen: In seinem Versteck liest er Huckleberry Finn und andere Romane und träumt sich fort aus Rerik, dessen Spießig- und Ereignislosigkeit ihn ersticken. Die Bücher vermitteln ihm Fernweh und eine innere Triebkraft, mehr zu wollen, weg zu wollen. Beständig denkt er daran, sammelt im Kopf Gründe für seine Flucht. Ein Ort seiner Träume, neben dem Missisippi, ist Sansibar. 
Die ablehnende Haltung Knudsens bekommt durch das intensive Bestreben Gregors nach einer Lösung für die Flucht erste Risse, er willigt schließlich ein, die Plastik noch in der Nacht nach Schweden zu schmuggeln. Sie treffen entsprechende Vereinbarungen, dabei muss der Junge aushelfen. Gregor hat aber den Ehrgeiz, auch Judith zu retten, obwohl er sie überhaupt nicht kennt... Der Junge wiederum kann sein Glück kaum fassen, als sich ihm in der Fahrt nach Schweden die Chance bietet, seine Träume wahr werden zu lassen.
 
Vieles an diesem kurzen Roman ist bemerkenswert. Die Charaktere sind meisterhaft, mit wenigen Strichen angelegt, sie haben Tiefe als Individuen und stehen doch symbolhaft für verschiedene Gruppen von Menschen, die unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten. Sie sind intensiv miteinander verwoben, auch auf der erzählerischen Ebene, da die Perspektive innerhalb von einzelnen Kapitel mehrfach von einem zum anderen springt. Man sehnt sich nach einer einfachen, harmonischen Lösung für die Probleme all dieser Menschen, aber den Gefallen tut Andersch dem Leser nicht. Es ist nicht einfach, die Flucht kann nicht immer und für alle die beste Lösung sein. Interessant ist, dass der "Feind" keinerlei konkrete Gestalt annimmt. Die "Anderen" bleiben unausgesprochen, ungesehen, sind als zwar stete Bedrohung fühlbar, Andersch gibt ihnen aber keinen erzählerischen Raum. Vielmehr ist Thema, wie man angesichts der Gefahr, der man als Andersdenkender oder als anständiger Mensch ausgesetzt ist, handeln kann oder handelt muss. 
Sansibar oder der letzte Grund erschien erstmals 1957 und konfrontierte deutsche Leser mit ihrem eigenen Verhalten in der Gesellschaft des Nationalsozialismus: Wie hätten diese den Charakteren des Romans gegenüber gehandelt? Welches wäre ihre Rolle gewesen?
Auch heute noch funktioniert Anderschs Plädoyer für eigenständiges Denken und Handeln, für Verantwortung und Gewissen, ohne dass er dabei moralisch oder urteilend werden muss.
 
 Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund. Diogenes, Zürich 2012.
 

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